Ein Meetingraum, neun Kollegen aus verschiedenen Abteilungen sitzen sich im Halbkreis gegenüber. Heute geht es um einige Änderungen an einem wichtigen Pitch. Die Diskussion ist hitzig – und, ihr kennt das: Ihr habt Euch im Kreis gedreht, mehrere Abschweifungen genommen, seid euch gegenseitig ins Wort gefallen und von einem zufriedenstellenden Ergebnis so weit entfernt wie vor drei Wochen.
Natürlich gibt es mindestens eine Person im Raum, die bisher wenig oder nichts zum Gespräch beigetragen hat. Manchen von Euch fällt das gar nicht auf, anderen tendenziell negativ.
Doch es gibt einen Grund, warum sie hier ist: Ihre Analysen sind präzise, ihre Ansätze äußerst kreativ. Ihre Ideen könnten alles in eine bessere Richtung lenken. Doch während der Rest des Teams den Raum dominiert, findet sie keine Möglichkeit, sich einzumischen.
Allzu oft geraten introvertierte Menschen in Meetings und Diskussionen in den Hintergrund. Und das, obwohl sie großes Potenzial haben. Ihre Ideen haben Tiefe und Substanz, sie zeichnen sich durch analytisches Denken, reflektiertes Handeln und Verlässlichkeit aus.
Doch sie sind es nicht gewohnt, unausgereifte Ideen sofort auszusprechen. Sie brauchen Zeit und Ruhe, um zu reflektieren und Beiträge gut durchdacht zu formulieren, während ihre extrovertierteren Kollegen selbstbewusst das Wort ergreifen, selbst wenn sie gerade eigentlich nur laut denken.
Führungskräfte neigen dennoch dazu, extrovertierten Mitarbeitern mehr Kompetenz zuzuschreiben als ihren stilleren Kollegen. Die haben es deshalb umso schwerer, auf sich aufmerksam zu machen – zumal, wenn das Umfeld schnelle Antworten und selbstbewusstes Auftreten bevorzugt.
Doch gerade ihre reflektierte Herangehensweise kann wertvolle Innovationen hervorbringen.
Eine klare Definition gibt es nicht. Das macht es schwer, Zahlen etwa zum prozentualen Anteil introvertierter Menschen in der Gesellschaft zu erheben. Psychologen gehen von etwa 36-50 Prozent aus. Konsens ist: Extrovertierte Menschen suchen Kontakte, fühlen sich auch in großen Gruppen wohl, reden gern und denken öfter laut. Introvertierte hören eher zu und reflektieren oft, fühlen sich in Gruppen schneller erschöpft und suchen das Einzelgespräch. Häufig wird Introversion mit Schüchternheit erklärt, was nicht zutrifft.
Damit Introvertierte ihr Potenzial entfalten können, brauchen sie eine Kultur, die nicht auf Lautstärke setzt, sondern auf Inhalte. Statt stille Kollegen unter Druck zu setzen, auch mal etwas zu sagen, sollten Führungskräfte moderierend eingreifen und lautere Kollegen zum Zuhören verdonnern.
Stille Mitarbeiter entwickeln Ideen in Ruhe und fokussieren sich auf das Wesentliche. Wenn Diskussionen abschweifen, fällt es ihnen noch schwerer, sich einzubringen. Meetings ohne klare Agenda oder Gruppenarbeiten sind für sie nicht die ideale Arbeitsumgebung. Sie brauchen klare Gesprächsregeln.
Und: Gezieltes Feedback gibt ihnen Selbstvertrauen, vor allem dann, wenn die Rückmeldungen sich auf Inhalte beziehen und nicht auf den Präsentationsstil – denn der ist im Grunde völlig egal, wenn eine Idee gut ist. Eine einfache Nachfrage oder ein Halbsatz kann eine ebenso starke Idee beinhalten wie ein abschweifender Monolog oder eine Präsentation.
Introvertierte Menschen bringen übrigens viele Eigenschaften mit, die sie selbst zu exzellenten Führungskräften machen können.
Ihre Fähigkeit zur Konzentration aufs Wesentliche ermöglicht ihnen, neue Perspektiven zu erkennen und Schwachstellen in Prozessen oder Ideen zu sehen. Ihre Beobachtungsgabe befähigt sie dazu, genau hinzusehen, nonverbale Signale ihrer Mitmenschen wahrzunehmen und Vertrauen aufzubauen.
Diese Empathie und Wahrnehmung machen sie zu exzellenten Kommunikatoren und zu Führungskräften, die ihre Teams in schwierigen Zeiten unterstützen können.
Manche Prozesse brauchen laute Diskussionen und schnelle Entscheidungen. Aber ohne tiefe, gut durchdachte Beiträge geht es auch nicht. Es ist wie so oft: Die richtige Mischung macht die Innovationskraft.
Wenn also mal wieder eine Person neben euch im Meeting sitzt und nichts dazu beiträgt, dann liegt das mutmaßlich hauptsächlich daran, dass ihr sie nicht zu Wort kommen lasst. Fragt sie doch einfach mal nach ihrer Meinung – ohne sie unter Druck zu setzen.
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